Neue Wege

„Herzlich willkommen! Schön, dass ihr noch kommt“, meint Usha und zupft an ihrem prächtigen orange-roten Sari. Ihr Lächeln lässt mein schlechtes Gewissen in einer Sekunde implodieren. Für 15 Uhr war der Besuch unseres Evaluierungsteams angekündigt worden – nun ist es 17.30 Uhr.
Weil das Besuchsprogramm der Kleinprojekte in Ostindien ohnehin viel zu dicht war.
Weil es hier noch Abschiedsreden gab. Oder einen Tee mit ein wenig Gebäck.
Oder einen schnellen Blick in den neu aufgebauten Kleintierstall und die neue Bio-Dünger-Anlage. Der infernalische Gestank der dunklen Brühen hängt mir noch immer in der Nase.

„Passt auf, dass ihr nicht auf ein Beet tretet“, meint Usha und führt uns durch ihren Gemüsegarten. Wie es ihr von den Beratern gezeigt wurde, sind alle Beete zwei Spatenstiche tief umgegraben worden.
Zudem ist jede Menge organisches Material eingearbeitet worden.
Die Wurzeln können so weit in die Tiefe wachsen – und selbst auf kleinen Flächen ist ein enormer Ertrag möglich.

Die schon tief stehende Sonne lässt die dicht wachsenden Pflanzen von innen heraus leuchten. Palak, eine Art Spinat, glänzt so intensiv grün, wie ich es bisher nur aus Irland kannte. In den Nachbarbeeten wachsen Süßkartoffeln und Bohnen.

Eine leichte Brise trägt den Duft der Kräuterbeete zu uns herüber. Der Hobbykoch in mir hebt die Nase: „Koriander!“, stelle ich schnuppernd fest. Und auch Minze – und Kadi Patta, ein kleiner Baum, dessen Blätter in Currys verwendet werden.

„Alles bio!“, berichtet Usha stolz. „Und alles in Tiefkultur angelegt. Meine Erträge sind seitdem erheblich gestiegen. Einen Teil der Ernte kann ich auf dem Markt verkaufen. Die Qualität ist so gut, dass die Kunden bei mir Schlange stehen.“

Gerne würde Usha noch mehr erzählen, doch wir müssen schon wieder weiter. Aber sie zupft an meinem Hemd und zieht mich in den hinteren Teil des Gartens.

„Hier, das müsst ihr noch sehen! An dieser Stelle war früher alles knochentrocken“, erzählt sie. Mit Hilfe der Berater habe sie die richtige Erde aufgeschüttet – und nun wachsen dort prächtige Blumen: Ringelblumen und Sonnenröschen; am Rand der Beete recken sich Bougainvillenranken der Sonne entgegen.
Rosa, violett und rot, orange, gelb und goldfarben. Angesichts dieser Pracht erscheint mir der Gemüsegarten nun wie eine Ouvertüre, das Blumenfeld wie ein triumphales Finale:
Jede Blume ist ein Instrument – gemeinsam schmettern sie ihre Lust am Leben hinaus.

„Wenn es nur immer so wäre“, denke ich, als wir uns wieder in die Blechlawine Richtung Bhubaneswar einordnen. Wildes Hupen ersetzt das Summen der Insekten. Ampeln und bunt bemalte Rikschas das Farbenmeer der Blumenfelder.

Anmerkung des Autors

Im Jahr 2014 führte ich die Abschlussevaluierung eines Berufsbildungsprojekts für Jugendliche und Erwachsene aus der Stammesbevölkerung in Jharkhand, Westbengalen und Odisha (Indien) durch. Ziel des Projekts war es, unterentwickelte Distrikte mit einem hohen Anteil sehr armer Stammesbevölkerung durch gezielte Maßnahmen zu unterstützen. Im Mittelpunkt standen Fortbildungen mit umwelt- und ressourcenschonenden Themenfeldern sowie der Aufbau von Netzwerken mit lokalen Organisationen.

Die Ergebnisse der Evaluierung fielen positiv aus:
61 % der Geförderten konnten ihr Einkommen steigern, bei rund der Hälfte lag der Zuwachs sogar bei über 50 %. Darüber hinaus förderte das Projekt die funktionale Alphabetisierung unter der ländlichen Bevölkerung, verringerte die Abhängigkeit von schlecht bezahlter Lohnarbeit, steigerte die landwirtschaftlichen Erträge durch nachhaltige Anbaumethoden und verbesserte den Zugang zu öffentlichen und privaten Dienstleistungen.

Für mich persönlich sagten jedoch die strahlenden Augen der Geförderten und ihre ehrliche Dankbarkeit weit mehr aus als alle nach oben zeigenden Entwicklungskurven.

Ich werde in diesem Blog noch mehr über die besuchten Kleinprojekte berichten – ein paar der bereits eingestellten Fotos (Blogkategorie „Bilder und ihre Geschichte“) stammen von dieser Mission.


Kommentare

Eine Antwort zu „Neue Wege“

  1. Yannick

    So schön von den strahlenden Gärten und den strahlenden Augen zu lesen! Wirklich schön, dass du ein Teil dieser Projekte bist die so vielen Menschen Lebensqualität geschenkt haben.

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