Bernd geht es nicht gut. Der mächtige Bauch drückt gegen die Schreibtischkante. Bläulich angeschwollene Tränensäcke schreien nach weniger Arbeit und mehr Schlaf.
„Schau dir das an, Paul“, meint er und deutet auf die Dokumentenstapel vor sich. Einer hat die Form eines S und könnte jederzeit einstürzen. Ich behalte ihn argwöhnisch im Auge.
„Sind alles Projektanträge. Die verdammten Drecksdinger rauben dir den letzten Nerv.“
Ich erschrecke über Bernds Kraftausdrücke. Er ist schließlich EU-Beamter im gehobenen Dienst. Aber wir sind Landsleute. Und derbe Worte sind für ihn ein linguistischer Kurzurlaub.
„Kann ich verstehen“, sage ich. Der Besuchersessel quietscht im Rhythmus meines zustimmenden Nickens. „Du musst vermutlich Verwaltungsvorgabe A 1.1 bis Z 9.9 überprüfen. Kaum bist du durch, kommt der nächste Antrag dran.“
„Danke, Bruder!“, meint Bernd pathetisch und übernimmt dabei eine hier in Rabat übliche Formulierung, wenn Mann sich verstanden fühlt. Er zündet sich eine Zigarette an. Das ist eigentlich in EU-Räumen verboten. Aber Bernd braucht kleine Rebellionen.
Er quetscht sich aus seinem Chefsessel, greift gefährlich nahe an einem Dokumententurm vorbei und öffnet das Fenster. Hupende Autos sind nun zu hören. Ein frischer Luftzug mogelt sich zwischen abgestandenem und frischem Zigarettengestank hindurch. Meine Nase nimmt die Brise dankbar auf.
„Weißt du was mir gestern passiert ist?“
„Ich werde es gleich erfahren“, meine ich. Bernd dankt mir die Bemerkung mit einem Grinsen.
„Ein marokkanischer Industrieller chauffiert mich mit seinem Jaguar ins Cosmopolitan.“
„Klingt nach guter Küche.“
„Sterne-Küche!“, bestätigt Bernd. Essen ist ihm wichtig; sein Bauch ist sein Zeuge. „Die fahren mächtig was auf: Schwertfisch mit Molekularquatsch und selbstgemachte Pralinen. Dazu Spitzen-Chablis und Hors d’Âge-Cognac zum Nachspülen.“
Ich nicke. Bernd mag Nachspülgänge. Die geplatzten Äderchen auf den Wangen sind seine Zeugen.
„Das Ganze kostet 300 €; zahlt natürlich Herr Jaguar. Und weißt du, was er mir beim Mokka rüberreicht?“
„Einen Förderantrag?“
„Genau! Ist stinkreich, will aber EU-Gelder abzocken. Hast du da noch Töne?“
Habe ich: In mir erklingt der Blues. Mögliche Entwicklung ertrinkt in einem Meer von realitätsfernen Vorschriften. Korrupte Eliten bedienen sich gerne. Überarbeitete Verwalter machen nur noch Häkchen.
Ich stelle noch ein paar Fragen zu den von uns betreuten Fachverbänden. Dann begleitet mich Bernd zum Ausgang. Ein Kontrolleur nickt hinter Panzerglas. Grünes Licht. Der Türöffner summt; der 12 Sterne-Kranz der EU schwingt auf und ich bin wieder ein freier Mann.
Ich ziehe mein Sakko aus. Gerne würde ich mir alle Kleider vom Leib reißen und ins nahe gelegene Meer springen. Das darf noch ohne Verordnung rollen und schäumen.
„Taxi“, rufe ich und hebe den Arm. Ein blauer Peugeot 205 hält an. Sein rechter Kotflügel ist eine einzige Delle. Beiger Kit hält das Blech notdürftig zusammen.
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